Pepito hatte zu tun, sich mit den Eigenheiten des ungewohnten Pferdes vertraut zu machen. Erst nach einer Weile fiel ihm auf, dass er Bella in eine bestimmte Richtung lenkte. Auf gemeinsamen Ausflügen mit Amy hatte sie ihm ihren Lieblingsplatz gezeigt. Wenn sie aufgewühlt war, gelang es ihr dort am besten, sich wieder zu beruhigen. Die Waldlichtung war nicht allzu weit von der Ranch entfernt, das Gelände jedoch unwegsam. In seiner Angst um sie malte er sich die schrecklichsten Bilder aus. Wie sie durch den Sturz vom Pferd verletzt irgendwo am Boden lag, wilden Tieren hilflos ausgeliefert. Oder sie hatte sich das Genick gebrochen und war bereits tot. Und er war daran schuld, denn seinetwegen war sie schon wieder davongelaufen. „Bitte, Jesus“, flüsterte Pepito in die Nacht hinein. „Bitte lass mich Amy finden. Bitte, dass ihr nichts Ernsthaftes passiert ist.“ Mit einem Ruck bemerkte er, dass er in seiner Not zu beten begonnen hatte. Erst konnte er sich nur über sich selbst wundern. Doch dann betete er wieder, diesmal bewusst: „Bitte, Jesus, hilf mir, sie zu finden. Was aus mir wird, ist mir völlig egal, wenn es nur ihr gut geht. Bitte, beschütze Amy.“

Inzwischen war es Nacht geworden, aber der Vollmond leuchtete so hell vom klaren Himmel, dass Einzelheiten gut zu erkennen waren. Mit scharfem Blick suchte er unterwegs das Gelände ab, fand jedoch keine Spur von ihr. Endlich erreichte er die Lichtung. Und da saß Amy seelenruhig auf einem Baumstumpf. Als er herankam, stand sie auf. „Pepito?“, fragte sie erstaunt.

Der Bursche sprang vom Pferd. Mit wenigen Schritten war er bei ihr und schloss sie in die Arme. „Verdammt, Amy“, stieß er hervor. „Ich dachte, dir wäre etwas Schlimmes passiert. Geht’s dir auch wirklich gut? Bist du verletzt?“

„Nein, ich bin ganz in Ordnung.“ Kurz erwiderte sie seine Umarmung, dann ließen sie einander los. „Bella hat sich vor irgendwas erschreckt. Ich war nicht ganz bei der Sache, da war ich auch schon unten, und sie auf und davon. Bist du allein? Wie sollen wir mit nur einem Pferd zur Ranch kommen?“

Erst fühlte sich Pepito wie ein Idiot, dann musste er lachen. Ein wenig seltsam fühlte er sich nach dem ausgestandenen Schrecken, der tiefen Angst um Amy und der Riesenerleichterung. „Daran hab ich gar nicht gedacht. Wollte nur so schnell wie möglich zu dir. Naja. Du steigst aufs Pferd, ich gehe.“

„Ich glaube, das Problem wird euch nicht mehr allzu lange belasten“, erklang eine Stimme hinter Pepito. Erschrocken fuhr er herum. Er konnte das Gesicht des Mannes nicht erkennen, aber das Gewehr im Anschlag war eindeutig zu sehen.

*

„Wo ist eigentlich Amy?“, fragte Mary McClaw. Der Platz des Mädchens am Esstisch war leer. Sie ging zu Amys Zimmer, fand ihre Tochter dort jedoch auch nicht. Noch war niemand besorgt. Jeder nahm an, dass sie sich auf typische Amy-Weise irgendwo verkrochen hätte, um über ihren Frust hinwegzukommen.

Doch dann kam Rick von der Koppel herein. „Bella und Plucky sind weg“, meldete er knapp. Bella war Amys Pferd und Pepito hatte Plucky geritten, seit er auf der Ranch war.

Zornig sprang Nick McClaw auf. „Die beiden sind ausgerissen! Das wird mir der Junge büßen! Weit können sie noch nicht sein. Kann mir auch denken, wo sie sind. Amy hat ihn sicher zu ihrem Lieblingsplatz geführt. Mit Autos kommen wir dort nicht hin, wir brauchen Pferde.“

Wenig später war auch Father Alan informiert. Erst fühlte er sich zutiefst enttäuscht, doch dann schüttelte er den Kopf. „Da stimmt was nicht. Pepito ist nicht so. Jedenfalls müssen wir sie finden. Ich komme mit. Was ist?“, fragte er scharf, als Alex herzukam. Der Bursche wirkte besorgt.

„Ich kann Sandro nicht finden. Er fühlte sich nicht wohl und hat sich hingelegt, aber jetzt ist er nicht im Bett und auch sonst nirgendwo.“

Father Alan und Nick sahen einander betroffen an. „Mein Gott!“, stieß der Priester hervor. „Wir müssen die drei so rasch wie möglich finden!“

*

„Sandro?“ Pepito konnte es nicht fassen. „W-warum?“

„Luis Ortiz zahlt gut. Das konnte ich mir nicht entgehen lassen.“

„Aber d-du g-gehörst doch zu F-Father Alan!“

„Tja, was soll ich sagen? Brav zu sein lohnt sich nicht. P-pech für d-dich“, verspottete er Pepitos Stottern. „Und ihr beiden liefert mir auch das perfekte Szenario. Ich wollte dich heute ja schon etwas früher erledigen, aber dann kam Amys Pferd und du bist losgezogen, um das Fräulein in Nöten zu retten. Da hab ich die Gelegenheit ergriffen und bin dir auf Plucky gefolgt. Wenn sie euch finden, hast du erst Amy erschossen und dann dich selbst.“

‚Mit dem Gewehr? Dürfte mir schwerfallen‘, dachte Pepito unwillkürlich, doch laut sagte er: „Und du spielst das Unschuldslamm? Wie kommst du ohne Pferd zurück?“

„Ich laufe. Bin ziemlich schnell. Wie hätte ich das sonst im Nationalpark hingekriegt? Genug geredet. Tut mir leid für dich, Amy. Bist ein nettes Mädel. Hast dich bloß mit dem falschen Typen eingelassen.“

Sandro visierte Amy an und drückte ab, im selben Augenblick warf sich Pepito vor sie. Amy schrie auf, als Pepito zu Boden stürzte, und kniete sich hastig neben ihn.

„Immer diese unnützen Heldentaten“, seufzte Sandro. „Als würde das etwas am Endergebnis ändern.“

Veronika Grohsebner ist Schriftstellerin aus Wien und Autorin der erfolgreichen Benjamin Coleman Buchserie.
Der YOU!Magazin Fortsetzungsroman ist ein Spin-Off der Alan Jason Trilogie.