Kapitel II: Eine Chance

Auf der Polizeiwache saßen drei Personen im Büro von Captain Henry Sewell: der Captain, Officer Phil Evans und Richterin Carrie Sparks. Nachdenkliches Schweigen herrschte im Raum. Da öffnete sich die Tür und Father Alan Jason kam herein, gekleidet in schwarze Jeans und schwarzes Kollarhemd. 

„Vielen Dank, dass Sie so schnell gekommen sind, Father“, sagte der Captain, ein großer und etwas behäbig gebauter Mann Anfang vierzig.

Father Alan schüttelte reihum die Hände und setzte sich dann. Eine Vorstellung war nicht notwendig, sämtliche anwesenden Personen kannten einander seit Jahren. 

Der Priester war etwas über vierzig, nicht sehr groß, aber athletisch gebaut und bewegte sich auch sportlich dynamisch. Sein dichtes schwarzes Haar war an den Schläfen schon früh ergraut und allmählich zeigten sich vereinzelt überall silberne Fäden. Seine Hautfarbe war dunkel, die Augen erschienen beinahe schwarz und die Backenknochen standen leicht hervor. Father Alan war teils indianischer Abstammung. 

Dankbar griff er jetzt zum Kaffee, den Officer Evans ihm wortlos einschenkte. „Am Telefon sagten Sie mir, dass es um Pepito Ruiz geht. Was ist mit ihm?“ 

„Er wurde in der Nacht wegen Mordverdachts verhaftet.“

„Was?“ Father Alan hielt mitten in der Bewegung inne und stellte dann den Becher wieder auf den Tisch, ohne einen Schluck zu nehmen. Gestern Nacht war er Pepito begegnet. Hätte er den Mord verhindern können, wenn er etwas hartnäckiger gewesen wäre? Oder war es da schon zu spät? Langsam ging sein Blick von einer Person zur anderen. „Da steckt doch sicher mehr dahinter. Sie rufen mich nicht jedes Mal, wenn auf der Straße ein Mord begangen wird. Was genau ist passiert?“

Der Captain warf Evans einen Blick zu und der Polizist erzählte, was vorgefallen war. Er schloss mit den Worten: „Wir bringen aus Ruiz nichts heraus; er spricht kein Wort.“

„Trotzdem wissen wir einiges“, sagte Sewell nun. „Ruiz hatte zwar die Tatwaffe und seine Fingerabdrücke sind überall darauf verteilt, aber es finden sich keine Schmauchspuren an seinen Händen oder am Gewand. Egal wie es aussieht, der Bursche ist nicht der Mörder.“ 

 „Jemand will ihm die Tat anhängen“, nickte Father Alan grimmig. „Ist die Identität des Opfers schon bekannt?“

„Cyrill Greystone.“ Father Alan machte große Augen und stieß einen Pfiff aus. „Genau. Was das Motiv betrifft, da gäbe es einige Kandidaten.“

„Das Rivera-Kartell ist mein persönlicher Favorit“, fiel Richterin Sparks ein. Sie war Mitte fünfzig, eine feingliedrige Dame von durchschnittlicher Größe, ihre eisgrauen Haare trug sie kurz geschnitten. „Einige Jahre war Greystone als Strafverteidiger unschlagbar. Mindestens dreißig Mitglieder des Kartells laufen nur seinetwegen frei herum. Aber die letzten beiden Prozesse hat er verloren. Riveras Neffe hat lebenslänglich ausgefasst. Gott sei’s gedankt“, fügte sie mit unüberhörbarer Genugtuung hinzu.

„Ein starkes Motiv, Greystone zu ermorden. Dennoch, bei der Suche nach dem Täter kann ich Ihnen nicht helfen. Warum bin ich also hier?“, erkundigte sich Father Alan.

Sewell beugte sich etwas vor. „Vielleicht bringen Sie Ruiz zum Reden. Jemand muss ihm die Waffe gegeben haben. Und dieser Jemand war ziemlich sicher auch der Täter. So wie er dicht hält, ist es wahrscheinlich einer aus seiner Gang. Aber ganz egal, ob er redet oder nicht, stehe ich vor einem Problem. Ruiz ist zwar kein Mörder, aber ich könnte den Burschen wegen Einbruchs einsperren. Das wäre allerdings sein Todesurteil. Im Gefängnis gibt’s genug Leute von der 68th. Ein Befehl von draußen, ihn zum Schweigen zu bringen, und der Kleine ist Geschichte. Das will ich nicht verantworten müssen.“

„Dann wollen Sie ihn laufenlassen?“, fragte Father Alan skeptisch.

„Kommt nicht in Frage“, erwiderte der Captain entschlossen. „Erstens wäre das ebenso sein Todesurteil; auf der Straße wäre er Freiwild. Zweitens war er unbestreitbar an einem Einbruch beteiligt. Nein, ich dachte daran, den Burschen Ihrer Obhut anzuvertrauen. Wenn Sie einverstanden sind, stellt Richterin Sparks einen Beschluss dahingehend aus.“

„Ja, ich nehme ihn gerne bei mir auf“, sagte Father Alan ruhig. Richterin Sparks lächelte zufrieden und setzte ihre Unterschrift unter ein bereits vorbereitetes Schriftstück. Der Priester nahm es in Empfang und schaute dann von der Richterin zum Captain. „Sie beide sind echte Engel. Ich wollte, es gäbe mehrere von Ihrer Sorte.“

„Schon gut“, knurrte der Captain verlegen. „Evans hat mich auf die Idee gebracht. Kümmern Sie sich um den Teufelsbraten. Vielleicht wird ja noch was Rechtes aus ihm.“

Officer Evans stand auf, um den Priester zu dem Verhörraum zu führen, wo der Bursche wartete. Die Augen des Polizisten funkelten belustigt. „Wenn es einer schafft, ihn zur Vernunft zu bringen, dann sind das Sie. Mich konnten Sie seinerzeit schließlich auch zähmen.“

Da lachte Father Alan kurz auf. „Naja. Das kann man wohl nicht ganz vergleichen.“

Er betrat das kleine Zimmer, ausgestattet mit einem Tisch und zwei Stühlen. Pepito saß da mit gesenktem Kopf und verschränkten Armen. 

Als Father Alan das Wort ergriff, klang seine Stimme rau und dennoch sanft. „Mein Junge, du steckst da in einer ziemlich schlimmen Klemme. Hier drin“, er hob die dünne Aktenmappe in seiner Hand hoch, „hab ich einen richterlichen Beschluss. Ob es dir gefällt oder nicht, jetzt ist es soweit. Du kommst zu mir ins Heim.“ Er zögerte kurz und fügte dann heftig hinzu: „Ich lass dich nicht hängen. Niemals. Das verspreche ich dir.“

Veronika Grohsebner ist Schriftstellerin aus Wien und Autorin der erfolgreichen Benjamin Coleman Buchserie.

Der YOU!Magazin Fortsetzungsroman ist ein Spin-Off der Alan Jason Trilogie.