Alle, die unser Magazin aufmerksam lesen kennen ihn schon: den Fortsetzungsroman von der Wiener Autorin Veronika Grohsebner. Jetzt kannst du ihn auch auf unserer Homepage nachlesen. Neben weiteren Benjamin Coleman-Romanen (auch bereits von YOU! unter die Lupe genommen:)) schreibt sie momentan auch an dieser spannenden Geschichte rund den Jungen Pepito. Wer die Romane um Benjamin Coleman und vor allem auch ihre Vorgänger-Trilogie rund um Alan Jason kennt, wird sicher auch die ein oder andere bekannte Person in diesem Spin-off wiedererkennen. Viel Spaß beim Lesen des ersten Teils “Verrat”! Fortsetzung folgt…

Rasch ging der Teenager im Dunkel der Nacht entlang der verwinkelten Straßen. Sich knapp an den Hausmauern, außerhalb des Lichts der Straßenlampen zu bewegen, war ihm schon lange in Fleisch und Blut übergegangen. Nur dann gesehen zu werden, wenn man auch tatsächlich gesehen werden wollte, gehörte zu den Überlebensstrategien in den Ghettovierteln Hayleports, Louisiana, eine größere Stadt nördlich von Baton Rouge.
„Und was steht heute auf dem Programm, Pepito?“
Die tiefe Männerstimme knapp hinter ihm war zwar leise, kam aber so unerwartet, dass der vierzehnjährige Pepito Ruiz erschrocken zusammenfuhr. Reflexartig zog er blitzschnell sein Messer und drehte sich gleichzeitig um, aufs Äußerste angespannt und bereit zuzustechen. Neben dem Hauseingang zu einem Sozialbau, an dem er eben vorbeigeschlichen war, machte er die Gestalt eines nicht sehr großen Mannes aus. Die Hände in den Hosentaschen, lehnte er an der Hausmauer. Die Haltung war nicht bedrohlich, dennoch blieb Pepito kampfbereit. Im nächsten Moment bemerkte er am Hals des Mannes schwach einen hellen Schimmer, wie einen weißen Fleck an seinem Gewand. Da wusste er, mit wem er es zu tun hatte. Erleichtert ließ er die Hand mit dem Messer sinken.

Nach dem Schrecken klopfte ihm das Herz bis zum Hals, und verärgert stieß er aus: „Verdammt, Father. Machen Sie so was doch nicht. Um ein Haar hätte ich Sie umgelegt!“
„Vielleicht. Aber unwahrscheinlich. Wäre ich darauf aus gewesen, dich zu überfallen, hätte ich leichtes Spiel gehabt. Du bist zwar ganz schön schnell, aber beim Vorbeigehen hast du mich nicht bemerkt.“ Pepito fluchte nochmals, aber diesmal mehr aus Ärger über sich selbst. „Genau“, bemerkte der Priester trocken. „Und weil dir eine derartige Unachtsamkeit nicht ähnlichsieht, nehme ich stark an, dass dich irgendetwas völlig in Beschlag nimmt. Höchstwahrscheinlich etwas, was du besser bleiben lassen solltest.“
„Was ich mache, geht niemanden was an. Auch Sie nicht!“ Der Priester holte Luft zu sprechen, doch der Bursche ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Ist schon klar, was Sie wollen. Vergessen Sie’s. Mich interessiert Ihr dämliches Heim nicht. Bin grad wieder aus dem Knast raus. Glauben Sie, da will ich mich wieder einsperren lassen? Und noch dazu das Gelaber von Jesus anhören müssen?“
Die Sätze des Burschen kamen abgehackt. Pepito stotterte nicht direkt, doch vor beinahe jedem Satz musste er kurz innehalten, und dann kam er stoßartig hervor.

„Niemand sperrt dich ein“, erwiderte der Priester ruhig. „Und wenn du nicht willst, musst du gar nichts von Jesus hören. Wie stellst du dir das vor? Dass die Jungs den ganzen Tag mit gefalteten Händen und fromm erhobenem Blick umhergehen und überall im Haus ununterbrochen Lobpreislieder singen?“ Er lachte kurz auf. „Da wäre ich der Erste, der dem ein Ende setzt.“
Verblüfft legte Pepito den Kopf schief.
„Niemand wird zur Teilnahme an einer frommen Veranstaltung gezwungen. Ich will gar nichts von dir, das habe ich dir schon oft gesagt.“ Kurz hielt er inne, dann sagte er noch ein wenig eindringlicher: „Von dir will ich nichts. Aber dich will ich bei uns haben. Es ist mir nicht gleichgültig, wie es dir geht und was dir geschieht, verstehst du? Was ich dir bieten kann? Eine sichere Unterkunft, die Gewissheit von drei Mahlzeiten am Tag, eine Ausbildung und die Gelegenheit mit Leuten zusammen zu sein, ohne ständig auf der Hut vor Angriffen sein zu müssen.“

Pepito bewegte sich unruhig. Die Begegnung hätte nicht zu einem ungünstigeren Zeitpunkt kommen können. „Wissen Sie was, Father? Das klingt echt schön. Für Leute, die sowas brauchen. Ich gehör nicht dazu. Lassen Sie mich einfach in Ruhe. Okay?“
„Schon gut.“ Der Priester klang gelassen. „Solltest du es dir einmal anders überlegen, weißt du ja, wo du mich findest.“
Er nickte dem Burschen kurz zu und ging dann davon. Pepito warf einen Blick auf das Display seines Smartphones. Die Zeit war knapp, trotzdem musste er sich davon vergewissern, dass der Priester ihm nicht nachspionierte. Er wartete, bis der Mann um die Ecke verschwunden war, und folgte ihm dann. Father Alan zu dicht auf den Fersen zu sein, war nicht ratsam. Der Kerl hatte Augen im Hinterkopf. So lautlos er konnte, huschte Pepito den Weg zurück, den er gekommen war, bis er die Kreuzung erreicht hatte, und spähte dann vorsichtig um die Ecke. Father Alan war bereits beinahe zwei Häuserblocks entfernt; offensichtlich steuerte er direkt das Heim für Straßenkinder an, das unter seiner Leitung stand.

Erst war Pepito erleichtert, und dann gab es ihm einen Stich. Viel Überredung hatte es nicht gebraucht, um den Priester abzuwimmeln. Soviel dazu, dass Pepito dem Mann nicht gleichgültig war. Im nächsten Augenblick vergaß er auf seine Enttäuschung. In weiterer Entfernung und direkt am Weg zum Heim machte Pepito schemenhaft dunkle Gestalten aus. Unwillkürlich verspürte er den Impuls, Father Alan heimlich zu folgen, um ihm im Falle des Falles zu Hilfe zu kommen. Der Mann konnte zwar unheimlich nerven, war im Großen und Ganzen aber doch in Ordnung. Im nächsten Moment schimpfte er sich selbst einen Narren. Wenn jemand auf sich selbst aufpassen konnte, dann war das Father Alan. Man erzählte sich, dass der Mann einmal Special Trooper war. So manche Legenden bezüglich seiner Kampffertigkeiten rankten sich um seine Gestalt.
Egal. Die Begegnung hatte ihn viel Zeit gekostet. Er musste sich beeilen, um rechtzeitig zum Treffpunkt zu gelangen.

Text: Veronika Grohsebner/Beitragsbild: Getty Images