Acht Monate mit Obdachlosen und dann das.
Du glaubst nicht, was mir an meinem letzten Tag passiert ist.

Nach meiner Matura habe ich beschlossen für acht Monate nach Irland in ein Obdachlosenheim für Frauen zu gehen, um dort mitzuhelfen Die Gründe waren: etwas komplett Neues erfahren, richtig herausgefordert zu werden, mein Englisch zu verbessern.
Die Organisation war katholisch und ich wusste, dass ich Schlafplatz und Essen von dort bekommen würde und sonst bin ich relativ spontan, relativ ahnungslos, was mich erwarten würde, aufgebrochen.

Mein Alltag bestand aus putzen, putzen, putzen. Genauer gesagt aus 13 Toiletten, 6 Duschen, 400m2 Boden, Geschirr waschen, kehren, aufwischen, Chlor und kochen. Einmal die Woche war es noch ein bisschen mehr, weil ein Outdoor Bereich, der Obdachlosen zum Rauchen diente, gereinigt werden musste und die Duschen, der Gang und die Toiletten vom Dienstbereich auch geputzt gehörten. Wenn ein Zimmer frei wurde, weil uns eine Obdachlose, aus welchen Gründen auch immer verließ, dann hieß es auch dort zu putzen. Aber so richtig alles von oben bis unten. Macht Sinn, denn jeder Mensch freut sich über ein Gefühl des Willkommen- Seins und über ein super frisch geputztes Zimmer, besonders Obdachlose, die vorher auf einer Straße geschlafen haben.
Jeder Tag war voll mit neuen Herausforderungen, Überraschungen, schönen und traurigen Momenten mit meinen Ladies (mit den Obdachlosen).
Jeden Tag wurde im Heim selbst in einer schönen kleinen Kapelle die Heilige Messe gefeiert und einen Ort der täglichen Anbetung gab es just down the road. Das Gebet hat mich wirklich sehr getragen.

Es war die schwierigste Zeit meines Lebens, weil ich so viel von Zuhause vermisst habe, sehr viel alleine war, körperlich irrsinnig herausgefordert wurde und weil die Geschichten der Obdachlosen, ihre Drogenprobleme, ihre Vergangenheit, manchmal auch ihr rauer und aggressiver Umgang mit mir sehr belastend waren. Und das Heim selbst war sehr einschüchternd, alt und von einer 5 Meter hohen grauen Mauer umgeben.
Nach etwa 3 Monaten stand eines Nachts, es war kurz nach Weihnachten, also eine sehr schwierige Zeit, die wir Obdachlose und Helfer ohne Familie verbracht hatten, eine Obdachlose vor der Tür zum Dienstbereich. Sie hatte die Notfallglocke geläutet, um mich zu wecken – das schlimmste Geräusch, das ich kenne. Mitten in der Nacht ein schrilles Klingeln und du weißt nie, was dich jetzt erwartet.
Sie hatte ihre ganze Hand aufgeschlitzt – also versuchter Suizid.
Ich wollte nach dieser Erfahrung sofort heim, weil ich wochenlang nicht mehr schlafen konnte, aber mein Stolz war zu groß. Ich wollte meine acht Monate durchziehen.

Und dann mein letzter Arbeitstag am 30. Mai. Ich glaube, Gott hat mich, besonders mit der eben genannten Erfahrung auf meinen letzten Tag dort vorbereitet.

Eigentlich hätte ich frei bekommen, aber ich bestand darauf, noch ein letztes Mal alles zu geben. So machte ich mich um 12:30 auf den Weg von Zimmer zu Zimmer, um die Obdachlosen aus ihren Zimmern zu schicken, damit der ganze Wohnbereich geputzt werden konnte.
Im Zimmer Nummer 26 wohnte seit sechs Monaten ein junges Mädchen und sie war normalerweise immer sehr spät dran. Jedes Mal wenn ich klopfte, hörte ich dann ein „Give me two seconds“ und wartete dann 10 Minuten oder mehr. Erst am Vortag war ich etwas genervt und sagte ihr, sie solle doch mal früher aufstehen.
Und heute klopfte ich. Keine Antwort. Etwas verwundert sperrte ich ihr Zimmer auf, wollte die Türe öffnen und merkte aber einen Widerstand. Mein erster Gedanke war, sie würde sich hinter der Türe verstecken und fragte schmunzelnd: „Claire?“ Ich steckte meinen Kopf zum Zimmer hinein. Da war sie. Leblos wie eine Puppe. Sie hatte sich erhängt.

Ich könnte natürlich alles genau beschreiben und erzählen wie es weiterging, wie sie aussah, dass sie einen Brief geschrieben hatte etc. Aber ich möchte bewusst nicht mehr auf all die Einzelheiten eingehen.
Aber ich möchte dir erzählen, was ich von so einem Schock gelernt habe und wie Gott
gewirkt hat. Und Er hat gewirkt!

Normalerweise hatte ich immer einen Rosenkranz eingesteckt, hatte ihn an dem Tag aber vergessen. Nur vier Zimmer vorher hatte mir eine Obdachlose einen Rosenkranz als Abschiedsgeschenk geschenkt. Ich habe ihn die ganze Zeit als ich im Zimmer Nummer 26 war, festgehalten, wie meine größte Waffe und gebetet. Rosenkranzgebet macht einen echt stark und war das Beste, was ich in der Situation machen konnte.

Später habe ich gemerkt, dass es gut war, dass ich sie gefunden habe, denn mein Flug war ja schon für den darauffolgenden Tag gebucht. Also konnte ich „fliehen“. Andere Mitarbeiter, die noch längere Zeit dort wohnten, hätten wohl mehr zu kämpfen gehabt, weil sie dann noch vor Ort geblieben wären.

So herausfordernd die ganzen acht Monate waren, das war die größte Herausforderung meines Lebens. Und Gott hat sie mir zum für mich Besten Augenblick, zum Augenblick an dem ich am stärksten war, geschenkt.
Vielleicht klingt das so, als wäre ich dankbar für ihren Selbstmord. Das ist auf keinen Fall so, sowas ist wirklich traurig! Aber jetzt ist es ja vorbei, man kann es nicht mehr ändern, nur für sie beten und ich darf das Positive erkennen, das Gott mir durch diese Erfahrung geschenkt hat.

Jetzt, genau ein Jahr später habe ich immer noch mein kleines Kreuz zu tragen. Es ist immer noch ein wenig belastend, weil solche Bilder im Kopf bleiben, gerade dann, wenn man alleine ist. Und Türen aufmachen ist jedes Mal eine Überwindung. Besonders Türen von öffentlichen Toiletten oder Türen, die in dunkle Räume führen. Aber dieses kurze Herzrasen und die Angst darf ich aufopfern.

Ich habe gelernt, dass Gott einen nie im Stich lässt. Der Rosenkranz und die ganze Gebetsunterstützung von Freunden und Verwandten, auch besonders für die junge Claire, sind für mich ein Zeichen dafür, wie stärkend, tröstend und mächtig gebet ist. Und dass Gott immer bei mir ist!
Genau diese Erfahrung hat mich nochmal mehr zu Ihm und vor allem zum Rosenkranz gebracht!

Text: Resi Schmalzbauer/Foto: iStock